TheaterPACK
© Leipziger Volkszeitung, 1. Juni 2017

Der Philosoph will tanzen
Autor Alejandro Vallejo schickt das Theater Pack auf Sinnsuche

Von Benjamin Heine

Dafür dass der Laden auf Zeit so klein ist, kann man ihn schon sehr gut von weitem sehen. THEATER steht groß über der Tür des ehemaligen Geschäfts. Vor der Tür steht am Dienstagabend eine Menschentraube, wartend auf die Uraufführung von Alejandro Vallejos „Ich werde jetzt tanzen und möchte es möglichst real wirken lassen“. Ein weißbrauner Welpe stapft zwischen den Leuten herum, die bei seinem Anblick förmlich zerfließen. Das werden sie auch eine Stunde später tun, denn so gut wie THEATER könnte auch SAUNA an der Fassade stehen. Oder PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT.
Kurz nach acht bittet ein Herr mit Essstäbchen im top-ondulierten Haar die Plätze einzunehmen. Es ist Frank Schletter, der künstlerische Leiter des Theater Pack, an diesem Abend auch Co-Regisseur, Ausstatter, Graphiker, Conférencier und in jede Stille spiegelreflexartig Hineinfotografierender.
In grünes Licht treten einszweidreivierfünf Gestalten mit schwarzen Mänteln und Hüten, sie laufen zackig durch die Gegend. Als einer stürzt, halten die anderen inne. Doch nur kurz, sie müssen weiter, steigen über ihn. Alles wie bisher. Außer für den Gestürzten. Der kann nicht mehr aufstehen, labt sich allein gelassen an einer Blume, die er isst, ausspuckt, zerstört. Kein Wort ist gesprochen, aber vieles gesagt.
Der Mann hievt sich auf einen Stuhl, spielt Mundharmonika, mehr vorbeifahrender Zug als Dylan. Und er spricht. Nein, er hangelt sich von Wort zu Wort, von „Wer bin ich?“ zu „Was ist der Mensch?“ Er flüstert, er atmet schwer, hat Schmerzen, sieht zum Horizont. Ein Theatermonolog. Die Gedanken bleiben abstrakt und flach, finden selten in Originelles wie den Menschen als Brombeerstrauch (der seine Früchte feiert, aber seine Stacheln vergisst). Während der schon recht textsichere Mario Rothe-Frese weiter in den Brombeerstrauch hineinsteigt, klingelt und raschelt es, dass man nicht so recht weiß: Ist es Livemusikerin Ingeborg Freytag oder sucht gerade jemand im Publikum was in der Tasche?
Quasi-orgiastisch kommt der Mann zur Erkenntnis: „Ich bin anders … Ich bin die Welt.“ Um ihn herum tänzeln drei katzenartige Wesen in zerlöchertem Schwarz, aus Geräuschen wird Musik. Eine junge Frau erscheint, hinter der Tür monologisiert der Mann weiter. Schöner Wechselgesang. Wieder die Löchrigen und Zischen und Psst – und wir sind zurück beim Mann im Nebenraum: „Seit meine Beine mit mir Schluss gemacht haben, bin ich ein gern halluzinierender Mensch.“ Schlussmachende Beine und „Ich hab’s gecheckt“ treffen auf gewollte Kunstsprache, beide prallen aneinander ab.
Der Verbitterung und, ja, Lähmung des Philosophen tritt die junge Frau entgegen, die ihn immer fabulieren hört. Lea Farinah gibt dem jugendlichen Optimismus ein aufgeschlossenes Gesicht mit großen Augen, sagt, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt (sondern sogar Brombeeren ohne Stacheln). Es entwickelt sich ein Nachbarschaftsstreit über das Leben, mehr zwischen alt und jung als zwischen Mann und Frau. Wie jeder Streit zwischen Nachbarn steht er jenseits konkreter Dinge, ist er Austausch von Plattitüden, sind die Fronten verhärtet, ergibt sich kein Handeln. Wie das in Vallejos Stück ausgeht, konnte erahnen, wer in der Pause vor die Tür der „Sauna auf Zeit“ trat und im nächsten Hauseingang die Antipoden Rothe-Frese und Farinah gemeinsam Eis essen sah.