© Leipziger Volkszeitung vom 1. Februar 2011
Die Leiden der jungen Marie
Das Theater Pack stellt in seiner "Clavigo"-Inszenierung das Frauenschicksal in den Mittelpunkt
Ein Mann und die Entscheidung zwischen Familie und Karriere - das ist das Hauptthema in Goethes "Clavigo". Zumindest im Original. In der Inszenierung des Theater Pack, die am Sonntagabend vor rund 60 Zuschauern in der Nato Premiere hatte, wird ein anderes Dilemma in den Mittelpunkt gerückt: Vertrauen oder nicht vertrauen in die Liebe.
Nun ja, seien wir ehrlich: Von Goethes Werken sind nicht umsonst "Faust", "Die Leiden des jungen Werther" oder "Iphigenie auf Tauris" bedeutender. Das Trauerspiel "Clavigo" kränkelt da ein wenig hinterher. Der Protagonist, Clavigo, ist kein Held, der den Sinn des Lebens verstehen will, und auch kein Armseliger, der aufgrund nicht erwiderter Liebe den Tod wählt. Clavigo selbst begeht die Fehler, verrät die Liebe zu Gunsten der Karriere. Was mit der verlassenen Geliebten passiert, ist ihm größtenteils egal. Nur sein eigenes Glück steht im Vordergrund - für ihn selbst und auch für Goethe.
Aber nicht für das Theater Pack. Regisseur Frank Schletter wagt einen Kunstkniff und macht Marie zur Hauptperson. Ihr Zweifeln, Bangen, Hoffen wird in allen Einzelheiten dargestellt. Und auch wenn die Inszenierung mit einer Szenencollage ein wenig schleppend beginnt, die Leiden der jungen Marie können die Zuschauer fesseln. Nicht zuletzt wegen Ina Isringhaus, die sich die Rolle ganz und gar zu Eigen macht. Man nimmt ihr das taumelnde Liebesglück ebenso ab wie das hysterische Flehen. Wenn sie abwägt, ob sie noch einmal Clavigo vertrauen soll - es ist ein Monolog, der den gesamten Kummer zum Ausdruck bringt. Das Gefühl, die Qual - der Zuschauer muss mitleiden und hoffen, dass sich alles noch zum Guten wendet.
Das Abwägen zwischen Gefühl und Vernunft ist immer spürbar. Der emotionalen Marie wird mit Julia Leege eine rationale, kühle Sophie als Schwester zur Seite gestellt. Auch wenn die mitunter ein wenig zu steif ist und gegen Partnerin Isringhaus nur schwer anspielen kann, die Konzeption funktioniert. Die beiden erzählen die Geschichte aus ihrer Sicht, machen sie so lebendig. Dass Clavigo und sein Freund Carlos lediglich als Schemen in Form von dunklen Mänteln auftauchen, macht die Gespräche der Schwestern noch eindrucksvoller. Die mechanisch klingenden Reden der Männer, die zwischendurch aus den Lautsprechern dringen, verstärken die Lebendigkeit, die Lebhaftigkeit der Marie noch mehr.
Schletter reduziert auf das Wesentliche. Auch wenn damit ein paar Handlungsstränge des Trauerspiels nur angedeutet bleiben, es ist die Stärke der Inszenierung. Ein paar Blütenblätter, ein paar Papierschiffchen - es sind wenige Symbole, die der Geschichte das Bildhafte verleihen. Ansonsten geht es nur um die beiden Schwestern. Genauer gesagt: um eine Frau und ihre Entscheidung für oder gegen das Vertrauen in die Liebe. Das ist tragisch und schmerzhaft und wunderbar herzzerreißend.
Jenifer Hochhaus