TheaterPACK
© Leipziger Volkszeitung, 30. September 2017

Mörderischer Mythos
Premiere der „Medea“ im Laden auf Zeit: Sehenswertes Solo-Stück des Theater Pack

Von Benjamin Heine

Aus Liebe zu einem Mann verrät die Königstochter ihre Familie, tötet ihren Bruder, flieht mit dem Geliebten ins Exil. Sie bekommt zwei Söhne, aber der Geliebte verlässt sie für die Tochter des dortigen Königs. Die Frau ist nicht willkommen und sie kann nicht zurück. Sie rächt sich brutal, tötet die Geliebte ihres Mannes und deren Vater, den König – sowie schließlich noch ihre eigenen Kinder. Was heute zu einer vielstaffeligen Fantasy-Serie aufgeblasen würde (Sex! Gewalt! Rache! Wahnsinn! Bluuut!), hat Euripides 431 vor Christus in der Tragödie „Medea“ verhandelt. Frank Schletter hat den ausufernden Mythos aufs sehenswert Wesentliche reduziert: auf 45 Minuten mit nur einer einzigen Person auf einer schwarzen Bühne. Premiere war am Donnerstag im Laden auf Zeit, wo Schletters Theater Pack zuhause ist.
Mit dem Rücken zu uns liegt sie da, auf dem Boden im Nichts. Es dröhnt und knistert bedrohlich aus den Boxen. Die junge Frau erwacht, sie ist schmutzig und verletzt, schleppt sich über die Bühne, deren Kante sie befühlt (dabei kurz die „vierte Wand“ durchbrechend, sie aber – glücklicherweise – doch akzeptierend). „Ist da jemand?“ – „Ist da jemand? Ist da jemand?“, echot es vom Band. Schritte kommen näher und zack: Spot on und kein Mucks mehr im Raum. „Medea!“, sagt Medea, in katzenartiger Verteidigungshaltung, scheinbar in einer Verhörzelle. Denn vom Band kommen nun Fragen zu ihrer Person. Sie wiederholt immer wieder: „Medea, Tochter des Aietes, Frau des Jason“, auch um sich selbst zu vergewissern.
Irgendwann zergeht ihr das Wort „Jason“ auf der Zunge, und sie wendet sich direkt an ihn, für den sie Familie und Heimat verriet und der nun sie verraten hat. Medea findet Sicherheit, richtet sich auf, versucht zu gehen. Und offenbart dabei die vielleicht einzige Schwäche ihrer Interpretin Lea Farinah: Ihr „verletztes“ Humpeln sieht ein bisschen aus, als ob die erste Neandertalerin versuche zu tanzen. Ansonsten aber ist Farinah überzeugend, besonders in ruhigen Momenten, wenn sie nur was mit ihren Augen macht oder wenn sie, dem Wahnsinn verfallen, genüsslich Medeas Rache schildert, dabei Worten wie „Blut“ und „Dolch“ etwas Weiches und Schönes abgewinnt, das man da gar nicht vermutet hätte. Oder wenn sie aus so sinnlichen Worten wie „Mund“, „weich“ und „Schaum“ das größte Grauen formt: „Durch den Mund entweicht ein weißer Schaum“ (als Jasons „Neue“ stirbt).
Eine letzte schwarze Perle wird auf die tragische Ereigniskette gefädelt. Medea tötet ihre Kinder, um sie vor der blutrünstigen Rache von Kreons Anhängern an ihnen, den Kindern der Königsmörderin, zu „schützen“. Medea beerdigt sie allein. „Bei den Göttern, sag mir, wo sie sind!“ verlangt Jason von ihr. „Nein“, sagt sie und dieses Nein ist ihres, ist ihr letztes bisschen Selbstbestimmung in dieser Tragödie. Und man würde sie gern mit diesem Gefühl entlassen. Aber dann beginnt erneut das Verhör, als ewiger Gewissensbiss einer mehrfachen Mörderin und nicht enden wollender Kampf einer entwurzelten, gegen alle Umstände kämpfenden Frau.